Paukenschlag: Belgisches System zur Anerkennung von Religionsgemeinschaften gekippt
Eine Gruppe von Zeugen Jehovas aus Brüssel hat den belgischen Staat vor ein riesiges Problem gestellt - davon sind Justizexperten jedenfalls überzeugt. In einem bahnbrechenden Urteil stellt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Art und Weise in Frage, wie Belgien Religionen anerkennt.
Seit eh und je sind Gotteshäuser in unserem Land von der Grundsteuer befreit. Im Jahr 2017 beschloss die Region Brüssel jedoch, diese Ausnahme auf anerkannte Religionsgemeinschaften zu beschränken. Dies hatte zur Folge, dass unter anderem die Zeugen Jehovas ab 2018 die Steuer für ihre Gebäude zahlen mussten. Einige Zeugen Jehovas klagten beim belgischen Verfassungsgerichtshof – aber ohne Erfolg.
Europas oberster Menschenrechtswächter, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), hat ihnen nun in einem Urteil Recht gegeben. Damit ist die Art und Weise, wie Belgien Religionsgemeinschaften anerkennt, durch Straßburg untergraben worden.
Immer mehr Religionsgemeinschaften in Belgien anerkannt
In Belgien gibt es sechs anerkannte Religionen. Das sind seit dem 19. Jahrhundert die katholische Kirche, die jüdisch-israelische, die anglikanische (seit 1835) und die protestantische (seit 1876). Der Islam ist 1974 anerkannt worden und die orthodoxe Kirche 1985. Seit 2002 ist auch der organisierte Säkularismus anerkannt. Im Inland sind die Mitglieder mehr unter dem Begriff Laizisten bekannt.
Die Anerkennung als Glaubensgemeinschaft ist von entscheidender Bedeutung, weil sie sicherstellt, dass die Gehälter und Pensionen von Geistlichen – wie Priestern und Imamen – oder den gleichgestellten laizistischen Beratern vom Staat gezahlt werden.
Staatliche Anerkennung als Voraussetzung für Steuervorteile grundsätzlich rechtens
Nach dem Urteil des Verfassungsgerichtshofes steht es den Zeugen Jehovas frei, einen Antrag auf Anerkennung zu stellen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hält ein Anerkennungssystem als Kriterium für die Gewährung von Steuervorteilen auch für rechtmäßig. Aber: Das Anerkennungsverfahren selbst ist unzureichend und diskriminierend, so Straßburg.
Dem Verfassungsgerichtsurteil zufolge kann nur der belgische Justizminister eine Anerkennung in die Wege leiten, die dann von einer Mehrheit im Parlament gebilligt oder abgelehnt wird. Es gebe aber keine Kriterien, Verfahrensregeln oder Fristen, die dazu festgelegt sind.
Bestimmte Voraussetzungen erforderlich
Es gibt fünf Leitlinien für die Beurteilung der staatlichen Anerkennung. Diese finden sich in den Antworten auf parlamentarische Anfragen, die im Laufe der Jahre gestellt wurden. Die Religionsgemeinschaft muss genügend Anhänger haben, im Regelfall schon einige Zehntausend. Sie muss strukturiert organisiert und mehrere Jahrzehnte im Land verankert sein. Zudem sollte sie ein gesellschaftliches Interesse vertreten und keine Aktivitäten entwickeln, die gegen die Gesellschaftsordnung verstoßen könnten.
Aber selbst eine Religionsgemeinschaft, die alle diese Kriterien erfüllt, kann nicht immer mit einer Anerkennung rechnen. Der Buddhismus zum Beispiel fordert seit Beginn dieses Jahrhunderts seine Anerkennung. Die Anerkennung wurde bereits mehrfach angekündigt, ist aber noch immer nicht Realität. Der Hinduismus hat 2013 einen formellen Antrag auf Anerkennung gestellt, vorerst auch ohne Ergebnis.
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht Rechtsstaatlichkeit verletzt
Nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs verstößt dieses „besonders vage“ Verfahren ohne jegliche Kontrollmechanismen gegen die Regeln der Rechtsstaatlichkeit. Ein solches System beinhalte die Gefahr der Willkür in sich. Es gebe keine Mindestgarantien für eine objektive Bewertung der Ansprüche von Religionsgemeinschaften, so Straßburg weiter.
Juristischer Paukenschlag
Justizexperten sprechen da von einem juristischen Paukenschlag. Universitätsdozent Adriaan Overbeeke (UAntwerpen und VU Amsterdam), der sich auf die Anerkennung von Religionen spezialisiert hat, schätzt die Folgen als groß ein: „Der Kern des gesamten Unterstützungssystems, der Zugang zur Anerkennung wird untergraben.“ Wenn Belgien weitere Verurteilungen und Schadensersatzforderungen vermeiden will, müsse es an einem Rechtsrahmen für die Anerkennung von Religionen arbeiten. Im Jahr 2004 hatten sich Gemeinschaften und Föderalstaat zwar schon darauf geeinigt, dies zu verwirklichen, aber dieses Versprechen blieb bislang Makulatur.
Justizministerium nennt Urteil eindeutig
Dennoch kommen Bedenken aus dem Kabinett von Justizminister Van Quickenborne: Ein neuer Rechtsrahmen wird als politisch heikel angesehen, weil er eine Debatte über die Mittelverteilung zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften eröffnen wird. Beobachter sind sich in der Regel einig, dass die katholische Religionsgemeinschaft begünstigt
wird. Es kann auch zu einer Debatte kommen, ob die Religionsgemeinschaften überhaupt subventioniert werden sollten.
destandaard/mz/sh
QUELLE: https://brf.be/national/1592308/
Siehe auch: https://bitterwinter.org/belgium-tax-discrimination-against-jehovahs-witnesses/