Gent-Urteil im Berufungsverfahren gekippt: Kontaktabbruch von Jehovas Zeugen darf in Belgien frei gelehrt und ausgelebt werden
09/08/2022
Das Berufungsgericht von Gent kritisiert das Urteil der ersten Instanz und kommt zu dem Schluss, dass der Kontaktabbruch durch die Grundsätze der Religionsfreiheit geschützt ist.
Von Massimo Introvigne
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Das Berufungsgericht Gent. Bildnachweis. |
Bitter Winter erörterte in mehreren Artikeln das umstrittene strafrechtliche Urteil des Gerichts von Gent (Belgien) vom 16. März 2021. Das Urteil stufte die Aufforderung an aktuelle Mitglieder einer religiösen Organisation, sich nicht mit ehemaligen Mitgliedern zu treffen, die ausgeschlossen wurden oder die Organisation verlassen haben, als Diskriminierung und Aufstachelung zum Hass ein, die in Belgien verboten werden sollte.
CESNUR, die Mutterorganisation von Bitter Winter, organisierte ein Webinar über das Urteil von Gent, bei dem mehrere führende Wissenschaftler sowohl über Jehovas Zeugen als auch über Religionsfreiheit referierten. Sie alle waren sich einig, dass die Genter Richter einen für die Religionsfreiheit im Allgemeinen äußerst gefährlichen Präzedenzfall geschaffen hatten, und brachten die Hoffnung zum Ausdruck, dass das Urteil im Berufungsverfahren aufgehoben werden könnte.
Erfreulicherweise stimmte das Berufungsgericht Gent am 7. Juni diesen Wissenschaftlern zu und hob das erstinstanzliche Urteil vollständig auf. Die Berufungsrichter kritisierten die Art und Weise, wie die strafrechtliche Untersuchung durchgeführt wurde, und stellten fest, dass nur verärgerte ehemalige Zeugen Jehovas und Gegner der Religionsgemeinschaft befragt wurden. Vertreter von Jehovas Zeugen in Belgien wurden nicht angehört, obwohl sie sich zur Verfügung gestellt hatten. Das Gericht wies auch auf die Rolle der als Zivilpartei auftretenden föderalen belgischen Antidiskriminierungsstelle UNIA hinauf deren Argumente die Berufungsrichter ebenfalls eingingen.
Das Berufungsgericht stellte fest, dass das Urteil der ersten Instanz auf dem belgischen Antidiskriminierungsgesetz beruhte, das Diskriminierung und Belästigung verbietet. Allerdings brachten die Richter der ersten Instanz auch das Argument vor, dass die durch die belgische Verfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention geschützte Religionsfreiheit der ausgeschlossenen Mitglieder verletzt worden sei.
Das Berufungsgericht bekräftigte zunächst, dass auch die kollektive Religionsfreiheit religiöser Organisationen geschützt ist und nach einstimmiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) das Recht umfasst, Mitglieder auf Grundlage der eigenen religiösen Lehren und Kriterien der Organisation auszuschließen. Dass jemand nicht mehr zu Jehovas Zeugen gehört, wird in Zusammenkünften der Versammlung (Gemeinde) bekannt gegeben. Die Religionsfreiheit schließt freilich „auch das Recht ein, den Anhängern mitzuteilen, wer zur Religionsgemeinschaft gehört und wer nicht“, und die Richtlinie von Jehovas Zeugen zu diesen Bekanntmachungen ist daher ebenfalls geschützt.
Die Parteien bestreiten nicht, so die Berufungsrichter, dass „die Vorgehensweise des Ausschlusses auf einer religiösen Überzeugung oder einer Glaubensregel beruht, genauer gesagt auf einer für Jehovas Zeugen spezifischen Auslegung bestimmter biblischer Texte“. Dies scheint offensichtlich durch die Religionsfreiheit geschützt zu sein. Das Urteil der ersten Instanz und die UNIA argumentierten jedoch, dass die Religionsfreiheit „nicht unbegrenzt“ sei.
Grundsätzlich, so das Berufungsgericht, sei dies richtig. Die Europäische Menschenrechtskonvention lässt Einschränkungen der Religionsfreiheit zu, die „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind“. Allerdings ist „der durch Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährte Schutz ziemlich umfassend und der Ermessensspielraum der Behörden – in diesem Fall der Strafgerichte – entsprechend gering“.
Das Berufungsgericht führte die Rechtssache Jehovah’s Witnesses of Moscow and others v. Russia an. Damals entschied der EGMR, dass religiöse Anleitung, die zu einer Entfremdung von Familienmitgliedern mit anderen religiösen Überzeugungen führt, ebenfalls durch Artikel 9 geschützt ist. Das Berufungsgericht zitierte auch die bahnbrechende EGMR-Entscheidung „Sindicatul“, in der es heißt, dass es innerhalb einer religiösen Organisation kein „Recht auf Meinungsverschiedenheit und Opposition“ gibt und dass es einer solchen Organisation freisteht, Andersdenkende auszuschließen. Die individuelle Religionsfreiheit ist trotzdem geschützt, da jeder die Organisation verlassen und sich einer anderen religiösen Gruppe anschließen oder eine solche gründen kann, was mehrere der Zivilparteien auch tatsächlich getan haben.
Die Richter des Berufungsgerichts wiesen auch darauf hin, dass das Gesetz die Mitglieder einer Religionsgemeinschaft nicht dazu zwingen kann, gegen ihren Willen mit denjenigen Kontakt zu haben, die ihre Gemeinschaft verlassen haben. Die UNIA argumentierte jedoch, dass im Fall von Jehovas Zeugen die Methode des Kontaktabbruchs gegen die Religionsfreiheit der einzelnen Mitglieder verstößt, für die ein Austritt schwierig oder sogar unmöglich wird, weil sie wissen, dass sie gemieden werden, wenn sie die Gemeinschaft verlassen.
Die Berufungsrichter stellten fest, dass „fast alle Zivilparteien und gemeldeten geschädigten Parteien in diesem Fall ehemalige Mitglieder von Jehovas Zeugen sind, was schwer mit dem Argument vereinbaren zu sein scheint, dass der Kontaktabbruch es unmöglich oder unangemessen schwierig macht, diese Glaubensgemeinschaft zu verlassen.“ Tatsächlich, so stellte das Berufungsgericht fest, verlassen jedes Jahr viele Menschen die Zeugen Jehovas und werden nicht durch ihr Wissen um den Kontaktabbruch daran gehindert, dies zu tun.
Die UNIA argumentierte auch, dass die Religionsfreiheit derjenigen, die in der Organisation von Jehovas Zeugen verbleiben, verletzt wird, weil sie gezwungen werden, den Regeln des Kontaktabbruchs zu folgen, und weil sie ausgeschlossen werden, wenn sie sich nicht daran halten. Auf der Grundlage von Dokumenten und Zeugenaussagen bezweifelt das Berufungsgericht, dass dies in allen Fällen, in denen die Regeln des Kontaktabbruchs nicht befolgt werden, tatsächlich der Fall ist.
Noch wichtiger ist, dass die Berufungsrichter feststellen, dass das Lehren und Praktizieren von Meidung und sogar das Erheben dieser Regel zu einer wesentlichen Richtlinie einer religiösen Organisation (was, wie das Berufungsgericht feststellt, auch in anderen Religionen als Jehovas Zeugen geschieht, einschließlich des orthodoxen Judentums und einiger islamischer Rechtsschulen) nach dem belgischen Antidiskriminierungsgesetz, das im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention ausgelegt wird, nicht per se verboten werden kann. Die Gerichte können sicherlich prüfen, ob ehemalige Mitglieder von aktiven Mitgliedern „gestalkt, belästigt, schikaniert oder bedroht“werden. Dies ist jedoch bei Jehovas Zeugen nicht der Fall, die lediglich eine Form der „passiven sozialen Meidung“ praktizieren.
Das erstinstanzliche Gericht zitierte einen Vortrag eines Ältesten aus dem Jahr 2013, der gegen die „Abtrünnigen“ wetterte. Er rief jedoch nicht zur Gewalt auf, stellten die Berufungsrichter fest, und er unterschied zwischen „Abtrünnigen“,d. h. Ex-Mitgliedern, die zu aktiven Gegnern der Zeugen Jehovas werden, und solchen, die einfach aus der Organisation austreten, aber ihr Leben nicht dem öffentlichen Angriff auf sie widmen. Der Älteste (mein Kommentar, nicht der der Richter) hat in der Tat das vorherrschende soziologische Konzept der „Abtrünnigen“ korrekt angewandt.
Während die UNIA darauf beharrte, dass die Meidung ihre „Opfer“ zu einer totalen „sozialen Isolation“ verurteilt, entgegneten die Berufungsrichter, dass dies nicht der Fall sei. Jehovas Zeugen machen nur einen winzigen Anteil der belgischen Bevölkerung aus. Den gemiedenen Ex-Mitgliedern steht es immer noch frei, mit der großen Mehrheit der belgischen Bürger, die keine Zeugen Jehovas sind, in Kontakt zu treten.
Es gebe einen Sonderfall, so die Berufungsrichter, der geprüft werden müsse. Während freundschaftliche Beziehungen nicht verfassungsrechtlich geschützt sind und es jedem freisteht, sie abzubrechen und den Umgang mit ehemaligen Freunden zu verweigern, bietet Artikel 22 der belgischen Verfassung einen besonderen Schutz für Beziehungen zwischen Ehegatten sowie zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern. Diese Beziehungen können nur durch ein gesetzlich geregeltes Verfahren aufgelöst werden, das die Scheidung und den Umgang mit minderjährigen Kindern bei der Trennung der Ehegatten und in anderen Fällen regelt.
Die Berufungsrichter stellten fest, dass Jehovas Zeugen lehren, dass die ehelichen Beziehungen zwischen zusammenlebenden Ehemännern und Ehefrauen auch dann fortbestehen sollten, wenn einer der Ehepartner kein Zeuge Jehovas mehr ist, und dass auch die Betreuung minderjähriger Kinder fortgesetzt werden sollte. In diesem Fall bedeutet „meiden“ nur, dass das ehemalige Mitglied nicht mehr an den religiösen Aktivitäten der Familie teilnimmt.
Das Berufungsgericht räumte zwar ein, dass einige ehemalige Mitglieder aussagten, dass sie nach ihrem Austritt bei den Zeugen Jehovas von ihren Ehepartnern schlecht behandelt wurden und sich daraufhin scheiden ließen. Es stellte jedoch fest, dass es unklar ist, ob in diesen Fällen religiöse Probleme der einzige Grund für die Unstimmigkeiten waren. Auf jeden Fall, so die Berufungsrichter, kann niemand, der dies wünscht, daran gehindert werden, die Scheidung einzureichen.
Das Berufungsgericht kam zu dem Schluss, dass das Lehren und Ausleben des Kontaktabbruchs in Belgien rechtmäßig ist, und hob die vom Gericht in Gent gegen Jehovas Zeugen verhängten strafrechtlichen Sanktionen auf. Es ist bezeichnend, dass die Berufungsrichter ihre Entscheidung am selben Tag fällten, an dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die „Auflösung“ von Jehovas Zeugen in Russland im Jahr 2017 für unrechtmäßig erklärte. Das Berufungsgericht Gent hat die vom EGMR in seinen zahlreichen Urteilen zu Jehovas Zeugen aufgestellten Grundsätze korrekt angewandt, die Rechtsstaatlichkeit wiederhergestellt und bekräftigt, dass Gerichte in demokratischen Gesellschaften – anders als in Russland – die kollektive Freiheit von Religionsgemeinschaften schützen, sich so zu organisieren, wie sie es für richtig halten.