Jehovas Zeugen: Der Gemeinschaftsentzug, das Meiden von Personen und das Urteil von Gent
Viele verstehen nicht, was das Meiden von Personen genau bedeutet. Irrige Darstellungen der Praxis mögen die Richter von Gent beeinflusst haben.
von George D. Chryssides*
*Abhandlung dargelegt anlässlich des Webinars “Jehovah’s Witnesses, Shunning, and Religious Liberty: The Ghent Court Decision” [Jehovas Zeugen, das Meiden von Personen und religiöse Freiheit: Das Urteil von Gent], 9. April 2021 [vgl. Video des Webinars].
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Aus dem Wachtturm vom 15. April 2015. |
Das Thema Gemeinschaftsentzug unter Jehovas Zeugen wird völlig falsch verstanden. Ein “renommierter Sektenexperte” behautet, jemandem könne die Gemeinschaft entzogen werden wegen des Versendens einer Geburtstagskarte! Natürlich ist dies völlig absurd. Ein Gemeinschaftsentzug erfolgt nur aufgrund schwerer Vergehen. Hierfür braucht es entweder die Bestätigung zweier Zeugen oder ein Bekenntnis des Schuldigen, der die Tat nicht bereut.
Die Maßnahme, eine Person zu meiden, wird von der Gemeinschaft angewendet auf getaufte Mitglieder (Erwachsende und Minderjährige) und solche, die aus eigenem Willen die Gemeinschaft verlassen – d. h. sie haben offiziell in schriftlicher Form den Wunsch bekundet, nicht mehr Teil der Wachtturm-Organisation zu sein, oder sie geben durch ihr Verhalten deutlich zu erkennen, dass sie die Religionsgemeinschaft verlassen möchten. Vielleicht besuchen sie regelmäßig eine konventionelle Kirche, treten der Armee bei oder stimmen freiwillig einer Bluttransfusion zu.
Das Handbuch für Älteste, “Hütet die Herde Gottes“, listet 18 Arten von Verstößen auf, die potentiell zu einem Gemeinschaftsentzug führen könnten. Der häufigste Grund ist sexuelle Unmoral, aber auch das Feiern religiöser Feste, das Verbreiten falscher Lehren, Trunkenheit, Betrug und Diebstahl mögen zu dieser Maßnahme führen. Die Ältesten ernennen ein aus drei Männern bestehendes Komitee, das die Zeugen und den Schuldigen anhört und dann über den Ausgang entscheidet.
Wird jemand ausgeschlossen oder verlässt auf eigenen Wunsch die Gemeinschaft, wird in der Versammlungszusammenkunft unter der Woche eine schlichte Mitteilung gemacht, die lautet: „X ist kein Zeuge Jehovas mehr.“ Diese Bekanntmachung wird nur einmal und an einem Ort verlesen, wobei die Gründe nicht öffentlich genannt werden. Der Gemeinschaftsentzug ist eine Sache der Versammlung. Weder das Zweigbüro noch die Leitende Körperschaft können jemanden ausschließen. Ebenso erfolgt eine Wiederaufnahme auf Versammlungsebene. Empfindet ein Mitglied die Entscheidung des Rechtskomitees als ungerecht, kann diese Person innerhalb von sieben Tagen schriftlich Einspruch erheben. Daraufhin ernennt der Kreisaufseher eine Berufungskomitee, das in der Regel einer anderen Versammlung entstammt.
Ausgeschlossene Mitglieder werden ermuntert, weiterhin an der öffentlichen Anbetung teilzunehmen, wozu Versammlungszusammenkünfte und Kongresse gehören. Sie müssen nicht länger in den hinteren Reihen Platz nehmen. Ihre „Vorrechte“ werden ihnen entzogen. Zu diesen Vorrechten zählen zugewiesene Aufgaben wie das Predigen von Haus zu Haus, das Begrüßen von ankommenden Besuchern an der Eingangstüre, das Organisieren des Literaturstandes, das Halten von Ansprachen oder die Beteiligung an Rollenspielen auf der Bühne. Diese werden als Vorrechte bezeichnet, weil es als ein Privileg erachtet wird, Jehova dienen zu dürfen.
Es gibt drei Hauptgründe für das Meiden von Personen. Das Vorgehen wird als übereinstimmend mit biblischen Grundsätzen angesehen (z.B. 2. Johannes 10), es soll die Versammlung vor „schlechtem Umgang“ schützen (1. Korinther 15:33) und der Missetäter soll zur Besinnung gebracht werden, damit er bereut.
Mitglieder dürfen mit den ausgeschlossenen Personen oder denjenigen, die die Gemeinschaft verlassen haben, keinen Kontakt mehr pflegen. Es lohnt sich auch, darauf hinzuweisen, dass seine Wiederaufnahme möglich ist und sogar dazu angespornt wird: Die Ältesten bemühen sich darum, den Ausgeschlossenen mindestens einmal jährlich zu besuchen, um Rat anzubieten und festzustellen, ob das ehemalige Mitglied zur Umkehr motiviert werden kann.
Zuweilen hört man Geschichten davon, dass ausgeschlossene Zeugen Jehovas gezwungen werden, ihr Zuhause zu verlassen. Mit nur ein paar wenigen Habseligkeiten – vielleicht einem alten Lieferwagen, jedoch ohne Geld fürs Benzin – müssen sie unter einer Brücke übernachten. Solche Geschichten lassen sich zwar nur schwer auf Wahrheit überprüfen, sie entsprechen aber bestimmt nicht der heutigen Norm in einem Königreichsaal.
Andererseits ist es aber trügerisch, anzunehmen, dass die Familienbande erhalten bleiben und nur der geistliche Austausch unterbrochen wird. Bitter Winter zitierte die Aussage: “Da durch einen Gemeinschaftsentzug die Familienbande nicht gelöst werden, könnte der Ausgeschlossene weiter am normalen Familienalltag beteiligt sein. Allerdings hat er das Band, das ihn im Glauben und im Dienst für Gott mit der Familie verbunden hat, durch sein Verhalten ganz bewusst zerrissen…” (“Bewahrt euch in Gottes Liebe” [2008]: 208).
Daraus könnte man ableiten, dass Beziehungen innerhalb der Familie unverändert bleiben, wobei das ausgeschlossene Mitglied am wöchentlichen Studierabend der Familie nicht teilnehmen darf. So einfach gestaltet sich die Situation nicht. Bleibt die Hausgemeinschaft zusammen, werden normale Familienaktivitäten weiterhin gemeinsam stattfinden. Sollte der Familienvater ausgeschlossen werden, wird er nach wie vor mit den anderen essen, fernsehen, gemeinsame Ausflüge unternehmen und normale Beziehungen zu seiner Frau erhalten, was auch sexuelle Beziehungen einschließt. Er ist nach wie vor das Haupt der Familie, dem sich die Frau unterordnen sollte, es sei denn, seine Forderungen stehen im Widerspruch zum Gesetz Jehovas. Werden andere Familienmitglieder ausgeschlossen, bleiben die normalen familiären Beziehungen erhalten. Die Betreffenden werden lediglich nicht am Studierabend der Familie teilnehmen. Stattdessen wird der Vater ermuntert, ihnen persönlich geistliche Lebensberatung anzubieten. Dem Ausgeschlossenen wird jedoch nicht gestattet, sich mit familienfremden Zeugen Jehovas, die zu Besuch kommen, zu unterhalten.
Normalerweise wird von den Ausgeschlossenen nicht verlangt, das Zuhause zu verlassen – ganz bestimmt nicht, wenn er oder sie noch minderjährig ist. Eine Wachtturm-Publikation weist jedoch darauf hin, dass sich das Familienoberhaupt vielleicht gezwungen sieht, den Ausgeschlossenen zu bitten auszuziehen. Dies wäre dann angezeigt, wenn die Betreffenden fortfahren, sich auf unannehmbare Weise zu verhalten. Vielleicht kommen sie wiederholt betrunken nach Hause, oder sie beharren darauf, bis in die Morgenstunden mit ungläubigen Partnern wegzubleiben. Ist der Ausgeschlossene einmal von zu Hause ausgezogen, wird die soziale Interaktion nicht mehr weitergeführt. In zwei Videos der Wachtturm-Gesellschaft werden Eltern dargestellt, die sich weigern, eine Textnachricht von ausgeschlossenen Kindern zu öffnen, da ihnen der soziale Kontakt nicht mehr gestattet ist.
Ein ausgeschlossenes Mitglied mag an seiner Arbeitsstelle mit Zeugen Jehovas in Kontakt treten müssen. Ist dies der Fall, wird sich das Gespräch auf arbeitsbezogene Themen beschränken. Es würde kein weiterer Austausch stattfinden, weder sozialer noch religiöser Natur. Es ist auch schon vorgekommen, dass ein ausgeschlossenes Mitglied Teil einer kleinen Firma war, die von einem Zeugen Jehovas geleitet wurde, etwa einer Fensterreinigungsfirma. Ausgeschlossene Angestellte würden nicht die Kündigung erhalten, da ein praktizierender Zeuge nicht wollen würde, dass sie ihre Erwerbsquelle verlieren. Zudem wäre eine Kündigung vielleicht illegal. Hier würde daher besprochen werden, wie die Beziehung während der Dauer des Arbeitsverhältnisses weitergeführt werden könnte.
Das Urteil von Gent legte nahe, dass Kläger einen Geschäftsverlust erlitten hatten. Mit Sicherheit bestehen keine Instruktionen an die Mitglieder der Religionsgemeinschaft, Firmen von Ausgeschlossenen zu boykottieren, noch bedeutet das Aufsuchen eines Ladenlokals einen Verstoß gegen die Praxis, eine Person zu meiden. Ein solcher Kontakt mag Mitgliedern einer Versammlung etwas unangenehm sein; dies zu tun oder zu unterlassen ist aber eine persönliche Entscheidung.
Der Gemeinschaftsentzug ist nicht dazu gedacht, Gefühllosigkeit zu fördern. Eine Publikation der Wachtturm-Gesellschaft verweist auf das Beispiel einer ausgeschlossenen Frau, deren Auto im Parkplatz des Königreichsaals eine Reifenpanne hatte. Der Artikel empfiehlt den Mitgliedern der Versammlung, Hilfe anzubieten, und deutet an, dass Versammlungen mit dem Meiden von Personen zu weit gegangen waren.
Massimo Introvigne argumentiert, dass jemand, der freiwillig einer Organisation angehört, auch deren Regeln akzeptiert. Wer sich als Zeuge Jehovas taufen lässt, erhält genaue Anweisungen und wird unter anderem vertraut gemacht mit den Disziplinarverfahren der Organisation. Wer die Organisation freiwillig verlässt, sollte sich der Konsequenzen bewusst sein und sich überlegen, ob es nicht vielleicht vorteilhafter wäre, einfach von der Versammlung wegzudriften. Ein Vorbehalt sollte in diesem Zusammenhang vielleicht erwähnt werden: Obgleich die meisten Taufkandidaten Erwachsene sind, können auch relativ junge Kinder getauft werden. Hier mag es fragwürdig sein, ob diese sich der vollen Bedeutung ihrer Verantwortung, ein Mitglied der Zeugen Jehovas zu sein, wirklich bewusst sind, obwohl sie die Ältesten davon überzeugen können, mit den Glaubenslehren und der Lebensweise vertraut zu sein. In einem der beiden Videos von JZ, die mit Gemeinschaftsentzug zu tun haben, scheint das Mädchen, das sich taufen lässt, sehr jung, vielleicht nur etwa 10 Jahre alt.
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