Dienstag, 11. April 2023

VERFOLGUNG - Amoktat Hamburg / Man gibt den Opfern die Schuld

Man gibt den Opfern die Schuld: Schießerei in Hamburg und Jehovas Zeugen

Wie leicht vorauszusehen war, nutzten Vertreter von Anti-Sekten-Vereinigungen sogar das Massaker vom 9. März in Deutschland schamlos aus, um Jehovas Zeugen anzugreifen.

Von Massimo Introvigne

Blumen und Forderungen nach einem Waffenverbot vor dem Königreichssaal von Jehovas Zeugen, in dem die Schießerei stattfand. Quellenangaben.


Am 9. März 2023 stieg Phillip Fusz durch ein Fenster in einen Königreichssaal von Jehovas Zeugen in Hamburg ein und eröffnete mit einer halbautomatischen Handfeuerwaffe das Feuer, tötete sieben Zeugen Jehovas, einschließlich einem ungeborenen Kind, und verletzte acht weitere. Als die Polizei am Tatort eintraf, erschoss sich Fusz selbst.

Die Polizei war anfangs sehr zurückhaltend, was die Weitergabe von Informationen an die Medien anbelangt, und teilte lediglich mit, dass es sich bei dem Attentäter um einen ehemaligen Zeugen Jehovas handelte. Aber sobald der Name des Schützen bekannt war, fanden Reporter und einige deutsche Religionswissenschaftler schnell heraus, dass er ein selbst verlegtes Buch von mehr als 300 Seiten bei Amazon zum Verkauf angeboten hatte.

Dort präsentierte er Offenbarungen, die er angeblich von Engeln, Gott, Jesus Christus und Satan erhalten hatte, mit einer idiosynkratischen Form der christlichen Lehre, die allen bestehenden religiösen Organisationen kritisch gegenübersteht. Fusz war besessen vom Problem der Prostitution und er glaubte, dass der gegenwärtige Krieg eine Strafe Gottes für die Ukraine sei, weil sie ihre Prostituierten ins Ausland geschickt hätte, auch ins Heilige Land.

Fusz hatte auch eine Website, auf der er theologische und Management-Beratung für 250.000 Euro pro Tag anbot und dafür sowohl finanzielle als auch spirituelle Belohnungen versprach, die im Verhältnis zu den exorbitanten Gebühren stünden, die Kunden an ihn zahlen sollten.

Während Religionswissenschaftler seit langem wissen, dass Spekulationen über die psychische Gesundheit verstorbener Personen auf Grundlage religiöser Texte, die sie verfasst haben, zwecklos sind – wir haben keine Möglichkeit, im Nachhinein zu erfahren, warum sie ihre Werke verfasst haben, in welchem Kontext und für welches Publikum sie gedacht waren -, ist klar, dass Fusz‘ Ideen, wie sie in dem Buch dargelegt werden, nicht damit vereinbar waren, ein Zeuge Jehovas – oder ein Mitglied irgendeiner anderen christlichen Kirche oder Organisation – zu bleiben. Die Information, dass er Jehovas Zeugen „nicht im Guten“ verlassen hatte, wie einige Medien schrieben, kann daher nicht überraschend.

Andererseits ist das Kriterium der psychischen Gesundheit für die Frage relevant, ob er eine tödliche halbautomatische Waffe legal hätte besitzen und tragen dürfen. Laut deutschen Medien hatte Fusz einen Waffenschein und „war erst kürzlich von der Waffenbehörde aufgesucht worden. Die Behörde hatte im Januar einen anonymen Hinweis auf eine mögliche psychische Erkrankung von Phillip F. erhalten. Er wurde daher Anfang Februar [2023] von zwei Beamten der Waffenbehörde unangekündigt aufgesucht“, die zu dem Schluss kamen, dass es keine Gründe gäbe, ihm seine Waffe zu entziehen. Das war, gelinde gesagt, ein Fehler.

Der Hamburger Polizeipräsident, Ralf Martin Meyer (links), anlässlich der Pressekonferenz, bei der ein Bild des Attentäters (rechts) veröffentlicht wurde. Screenshots.

Während die Waffengesetzgebung nach der Schießerei in Hamburg eindeutig die wichtigste politische Frage war, versuchten einige so genannte „Sektenexperten“, Jehovas Zeugen die Schuld zuzuschieben („Sekten“, ein Wort, das im Englischen eher mit „cults“ als mit „sects“ übersetzt werden sollte).

Dies war durchaus vorhersehbar und entspricht einer Strategie, die wir schon in anderen Fällen beobachten konnten. Um nur zwei zu nennen (wobei es noch weitere gab): Im südkoreanischen Jeongeup-Mordfall vom 16. Juni 2022 ermordete ein Mann seine Frau, die Mitglied der neuen religiösen Bewegung Shincheonji war, und ihre Schwägerin. Wie er der Polizei erklärte, sei sein Hass auf die Shincheonji-„Sekte“ seine Motivation gewesen. Vertreter von Anti-Sekten-Vereinigungen, die den Mörder, wie sich später herausstellte, überhaupt erst aufgestachelt hatten, beriefen umgehend eine Pressekonferenz ein. Sie gaben Shincheonji die Schuld an der Tragödie mit dem verkehrten Argument, dass sie und ihre Schwägerin niemals getötet worden wären, wenn die Frau nie Shincheonji beigetreten wäre.

International bekannter ist die Ermordung des ehemaligen japanischen Ministerpräsidenten Shinzo Abe am 8. Juli 2022. Sein Attentäter behauptete, er habe Abe dafür bestrafen wollen, dass er an Veranstaltungen einer Organisation teilgenommen hatte, die mit der Vereinigungskirche verbunden ist (die jetzt Familienföderation für Weltfrieden und Vereinigung heißt). Er habe die Bewegung gehasst, weil seine Mutter, die immer noch Mitglied ist, im Jahr 2002 nach überhöhten Spenden an die Kirche bankrottgegangen sei.

Anstatt den Attentäter zu beschuldigen – oder auch die Vertreter der Anti-Sekten-Vereinigungen, mit denen er nachweislich vor der Tat in Kontakt stand und die ihm zwar sicherlich nicht nahelegten, Abe zu töten, wohl aber seinen Hass auf die Vereinigungskirche weiter schürten –, kritisierten die Medien die „Sekten“.

Medienkampagnen haben das Parlament und die Regierung dazu veranlasst, Gesetze und Verordnungen zu erlassen, die Spenden an religiöse Organisationen einschränken und Mitglieder der zweiten Generation neuer religiöser Bewegungen, wie der Attentäter von Abe, vor „religiösem Missbrauch ‚geschützt‘“ schützen, der angeblich aus der Sozialisierung in umstrittenen religiösen Organisationen resultieren würde. Tatsächlich zielen diese Bestimmungen auch auf Jehovas Zeugen ab, die eindeutig nichts mit Abe oder seiner Ermordung zu tun hatten.

Das sind alles Fälle, in denen den Opfern die Schuld gegeben wird. Nach der Schießerei in Hamburg behaupteten mehrere „Sektenexperten“ in den deutschsprachigen Medien, dass der Attentäter „wahrscheinlich“ deshalb so gehandelt habe, weil er beim Austritt aus der Gemeinschaft von Jehovas Zeugen traumatisiert worden sei. Sie wiesen darauf hin, dass Jehovas Zeugen unbescholtenen Mitgliedern empfehlen würden, nicht mehr mit denjenigen zu verkehren, die ausgeschlossen worden wären oder offiziell aus der Organisation ausgetreten seien, einschließlich nicht mit ihnen zusammenlebender Verwandter (so genanntes Shunning” oder „Ostrazismus).

In Deutschland war ein besonders lautstarker Verfechter dieser Theorie der altgediente Psychologieprofessor Michael Utsch, der seit 1997 als „Sektenexperte“ für den Bund der Evangelischen Kirchen in Deutschland tätig ist. Er stellte die Hypothese auf, dass das Verbrechen eine Folge des „emotionalen Drucks“ gewesen sei, den Jehovas Zeugen auf den Mörder ausgeübt haben könnten, ein Beispiel dafür, „wie die Sekte Menschen isoliert und kontrolliert“. „Vielleicht ist die Tat von Hamburg ein Anlass, um endlich zur Kenntnis zu nehmen, was sie damit anrichten“, sagte er.

In einem anderen Interview fügte Utsch hinzu, es sei „schade“, dass die Untaten der ‚Sekten‘ „jetzt erst durch so ein schreckliches Geschehen stärker an die Öffentlichkeit“ kämen. Utsch versuchte auch, zu argumentieren, dass die konservative Theologie der Zeugen Jehovas und ihre Unfähigkeit, sich zu reformieren und „lernfähig“ zu sein, wie man sich an den modernen gesellschaftlichen Kontext anpasst, bestimmte Mitglieder destabilisieren und sie zu destruktiven Handlungen führen könne.

Er mutmaßte, dass im Hamburger Fall die Ausgrenzung das Problem gewesen sein könnte. „Es gibt genug ehemalige Mitglieder, die geächtet werden und die das als einen starken seelischen Stress empfinden und meine erste Vermutung ist natürlich auch, dass er enttäuscht ist, dass er wütend gewesen ist und dass es im Affekt dann zu so einer schrecklichen Tat gekommen ist.“


Bereit, auf den Anti-Jehovas-Zeugen-Zug aufzuspringen: die Vertreter der Anti-Sekten-Vereinigungen, Michael Utsch, Georg Otto Schmidt und Hugo Stamm. Screenshots.

In der Schweiz mutmaßte Georg Otto Schmidt, der ein ähnliches evangelisches Antisektenzentrum leitet, sofort: „Es könnte ein Ex-Mitglied sein, das durch den Ausschluss absolut verzweifelt war und deshalb in Form eines erweiterten Suizids aus Rache zu dieser Tat schritt.“

Der Schweizer Anti-Sekten-Journalist Hugo Stamm, der für seine  scharfen Angriffe gegen Jehovas Zeugen bekannt ist, vermutete ebenfallsdass die Theologie von Jehovas Zeugen den Attentäter destabilisiert haben könnte, der vielleicht auch darunter litt, geächtet worden zu sein. Er spekulierte sogar: „Es ist durchaus denkbar, dass die Zeugen Jehovas den Amoklauf als weiteres Signal für die Endzeit interpretieren.“ Ohne klarzustellen, ob sie noch Stamms Meinung wiedergibt, fügte die Journalistin, die ihn interviewte, hinzu, Jehovas Zeugen „könnten … das schreckliche Ereignis nutzen, um die Reihen mit noch mehr Indoktrination und verschärften Regeln intern zu schliessen“.

Die von mir zitierten Artikel machen deutlich, dass die Vertreter der Anti-Sekten-Vereinigungen über keine täterbezogenen Informationen über das hinaus verfügten, was bereits von den Mainline-Medien veröffentlicht worden war. Sie haben nur spekuliert und ihrem Pawlowschen Reflex gehorcht, der sie zu der Behauptung veranlasst, dass „Sektenanhänger“ in irgendeiner Weise selbst schuld seien, wenn sie geschlagen oder getötet würden.

Die Schießerei in Hamburg ereignete sich einen Tag nach dem 8. März, dem Internationalen Frauentag. Jedes Jahr wird man an diesem Gedenktag unter anderem aufgefordert, darüber nachzudenken, wie viele Frauen von ihrem Ex-Partner getötet werden, nachdem sie ihn verlassen oder ihm gedroht hatten, ihn zu verlassen. Das betrifft weltweit mehr als 40.000 pro Jahr. Das „Verbrechen“, für das diese Frauen starben, besteht darin, dass sie ihre ehemaligen Partner aus ihrem Leben ausgeschlossen haben (was wir im religiösen Bereich mit „Gemeinschaftsentzug“ übersetzen können) und sich weigerten, weiter mit ihnen Umgang zu pflegen („Shunning“ oder „Ostrazismus“).

Wer behauptet, diese Frauen seien für ihr Schicksal selbst verantwortlich, weil sie ihren Ex-Partner „destabilisiert“ hätten, indem sie ihn aus ihrem Leben ausgeschlossen hätten, würde zu Recht einer abscheulichen Form von Hassrede beschuldigt werden können. Diejenigen, die nach dem Hamburger Massaker den Opfern, d. h. Jehovas Zeugen, die Schuld geben, verdienen es nicht, milder behandelt zu werden.

So wie Misogynie und Vorurteile gegenüber Frauen Frauenmorde und Rachemorde durch ihren Ex-Partner begünstigen, können Anti-Kultismus und Hassreden gegen Jehovas Zeugen schwache Gemüter beeinflussen und sogar zu Gewalt und Mord führen. Gegen diejenigen, die Phillip Fusz erlaubt haben, mit einer tödlichen Waffe durch Hamburg zu ziehen, sollte sicherlich ermittelt werden. Ich würde jedoch vorschlagen, auch gegen diejenigen zu ermitteln, die durch die öffentliche Verleumdung von Jehovas Zeugen und deren Darstellung als ein Übel, das um jeden Preis ausgerottet werden müsse, langsam den Attentäter dazu gebracht haben mögen, seinen Finger an den Abzug der Waffe zu legen und abzudrücken.



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