Dienstag, 4. April 2023

KONTAKTABBRUCH - 1. Warum Kontaktabbruch?

Kontaktabbruch bei Jehovas Zeugen. 1. Warum Kontaktabbruch?

Der Kontaktabbruch zu ausgeschlossenen ehemaligen Mitgliedern ist typisch für monotheistische Religionen. Wissenschaftler argumentieren, dass es einen Grund dafür gibt.

von Massimo Introvigne

LINK: 1. Warum Kontaktabbruch? 

LINK: 2. Verlassen der Gemeinschaft und Gemeinschaftsentzug 

LINK: 3. Der Kontaktabbruch in Theorie und Praxis 

LINK: 4. Was geschieht mit Minderjährigen?

LINK: 5. Ist der Kontaktabbruch „illegal“?

LINK: 6. Warum der Kontaktabbruch respektiert werden sollte

„…dass ihr nicht einmal mit einem solchen Menschen essen sollt“: Korinther erhalten vom Apostel Paulus Anweisungen zum Kontaktabbruch, wie in einer Veröffentlichung von Jehovas Zeugen dargestellt. Quelle: jw.org


Die Kampagnen gegen Jehovas Zeugen scheinen international zuzunehmen. Zum Teil hängen diese Kampagnen mit der Propaganda nicht-demokratischer Staaten zusammen, darunter Russland, die Jehovas Zeugen aus Eigeninteresse verboten haben und jetzt ihre Maßnahmen rechtfertigen müssen, die von internationalen Institutionen und mehreren Ländern verurteilt wurden. Zum Teil werden sie von der Anti-Kult-Bewegung angeheizt, die ihre Daseinsberechtigung und die Unterstützung vonseiten einiger Regierungen mit der Behauptung rechtfertigen muss, dass „die Bedrohung durch Sekten” tatsächlich gefährlich ist und wächst.

Eines der Hauptargumente, das gegen Jehovas Zeugen vorgebracht wird, ist ihre Lehre, dass ihre Mitglieder mit einen guten Ruf den Kontakt mit ausgeschlossenen Ex-Mitgliedern abbrechen sollten (mit einigen Ausnahmen, die ich im dritten Artikel dieser Serie erläutern werde), es sei denn, sie gehören zu ihrer unmittelbaren Familie und leben mit ihnen zusammen. Es wird behauptet, dass der Kontaktabbruch (auch „Meidung“ genannt) den „geächteten“ Ex-Mitgliedern psychisch schadet und ihre Menschenrechte verletzt.

Obwohl die überwältigende Mehrheit der internationalen Gerichtsentscheidungen, die sich mit dieser Angelegenheit befasst haben, zu dem Schluss gekommen ist, dass die Lehre eines Kontaktabbruchs in den Bereich der Religionsfreiheit von Jehovas Zeugen fällt, hat das Gericht im belgischen Gent am 16. März 2021 Jehovas Zeugen wegen ihrer Praxis der „Ächtung“ zu einer Geldstrafe verurteilt. Und am 26. Januar 2022 erließ der Bezirksgouverneur von Oslo und Viken einen Verwaltungsbeschluss, in dem er Jehovas Zeugen die staatliche Unterstützung für das Jahr 2021 verweigerte, die sie wie in den letzten dreißig Jahren hätten erhalten sollen, da er einige Aspekte des Kontaktabbruchs für bedenklich hielt. Gegen diese beiden Entscheidungen wurde Berufung eingelegt. Am 7. Juni 2022 wurde das belgische Urteil durch das Berufungsgericht Gent aufgehoben. Es kam zu dem Schluss, dass der Kontaktabbruch in Belgien frei gelehrt und praktiziert werden kann.

In dieser Artikelserie werde ich versuchen zu klären, worum es bei dem von Jehovas Zeugen gelehrten und praktizierten Kontaktabbruch geht, warum sie diesen praktizieren und warum er meiner Meinung nach tatsächlich in den Bereich der Religionsfreiheit fällt, die Jehovas Zeugen – und allen anderen – gewährt werden sollte.

Man kann ähnliche Verfahren wie den Kontaktabbruch in einigen buddhistischen Schulen und in anderen asiatischen Religionen finden, doch der Kontaktabbruch, wie er von Jehovas Zeugen praktiziert wird, ist ein typisches Merkmal von monotheistischen Religionen, die (nicht ganz unstrittig) „abrahamisch“ genannt werden, d. h. Judentum, Christentum und Islam. Die Behauptung, dass es dieses Verfahren nur bei Jehovas Zeugen gibt, ist reine Propaganda. Zwar unterscheidet sich die Art und Weise, wie Jehovas Zeugen und andere Religionen dieses Konzept umsetzen, doch ein kurzer Überblick über die religiösen Wurzeln des Kontaktabbruchs hilft uns, den Zusammenhang zu verstehen.

In 5. Mose 13:6-16 wurde den Juden gelehrt, dass sie einem Abtrünnigen, der den jüdischen Glauben verlassen hat und die Anbetung anderer Götter propagiert, nicht nachgeben und nicht auf ihn hören sollen, selbst wenn „dein Bruder, der dieselbe Mutter hat wie du, oder dein Sohn oder deine Tochter oder deine Frau, mit der du schläfst, oder dein Freund, den du liebst wie dich selbst“ abtrünnig wird. „Du sollst in dir kein Mitleid mit ihm aufsteigen lassen, sollst keine Nachsicht für ihn kennen“ (alle Bibelzitate aus der Einheitsübersetzung). In einigen Fällen, so lehrte das 5. Buch Mose, könnten diese Personen sogar zum Tode verurteilt werden. Für Christen gelten diese Texte: „Schafft den Übeltäter weg aus eurer Mitte!“ (1. Korinther 5:13); „mit einem solchen Menschen sollt ihr auch keine Tischgemeinschaft haben“ (1. Korinther 5:11); „nehmt ihn nicht in euer Haus auf, sondern verweigert ihm den Gruß! Denn wer ihm den Gruß bietet, macht sich mitschuldig an seinen bösen Taten.“ (2. Johannes 10-11). Mohammed (ca. 570–632) war sogar noch radikaler, wie ein oft zitierter Hadith zeigt, der Teil der Sammlung Sahib al-Bukhari ist und als die maßgeblichste Erklärung des Islam nach dem Koran gilt: „Wenn ein Muslim seine [sic] Religion verleugnet, töte ihn“.

Dies waren nicht nur Worte. Die Hinrichtung von Abtrünnigen war unter den Juden früher nichts Ungewöhnliches. Als die Juden ihre politische Macht verloren und zu einer verfolgten Minderheit wurden, ersetzten Rituale und Verfahren, die ihren symbolischen „Tod“ darstellten, eine Hinrichtung der Abtrünnigen. Die Gemeinschaft, einschließlich der nahen Verwandten, betrachtete den Abtrünnigen als tot. Von einem Abtrünnigen wurde so gesprochen, wie man normalerweise von einem Verstorbenen spricht. Im maßgeblichen Werk „Encyclopedia Judaica“ heißt es unter dem Eintrag über den „Herem“ (eine Form des Kontaktabbruchs), verfasst von Haim Herman Cohn (1911–2002), einem führenden Experten für jüdisches Recht, der Justizminister Israels und später Richter am Obersten Gerichtshof wurde, dass ein Abtrünniger „nur mit seiner Familie zusammenleben durfte, wobei es keinem Außenstehenden erlaubt war, sich ihm zu nähern, mit ihm zu essen und zu trinken oder ihn zu grüßen (…). Nach seinem Tod wurde sein Sarg gesteinigt, wenn auch nur symbolisch, indem man einen einzigen Stein darauf gelegt hat“, was einer symbolischen Hinrichtung gleichkam. Auch heute noch halten einige ultra-orthodoxe Juden an diesen Bräuchen fest.

Eine Schrift des großen jüdischen Führers Vilna Gaon (1720–1797) über den „Herem“. Bildnachweis.

Im „Corpus Juris Civilis“ des römischen Kaisers Justinian I. (482–565), das mehrere Jahrhunderte lang alle Aspekte des Lebens in katholischen und orthodoxen Ländern regelte, schrieb Artikel I.7.3 vor, dass Exkommunizierte oder vom Glauben Abgefallene „von der Gemeinschaft mit allen anderen Personen getrennt werden“ sollten. Sie konnten weder ein gültiges Testament machen noch erben, und in einigen Fällen wurde ihr Besitz vom Staat beschlagnahmt. Bis ins 20. Jahrhundert betrachtete das katholische Kirchenrecht einige Kategorien von Abtrünnigen als „vitandi“, Latein für „zu meiden“, und ähnliche Bestimmungen gibt es noch in einigen orthodoxen Ostkirchen.

Es erübrigt sich vielleicht, auf den Islam einzugehen, wo der Übergang von der Todesstrafe für Abtrünnige, die in mehreren Staaten immer noch Gesetz ist, zu einer strengen Form des Kontaktabbruchs von Gelehrten für islamisches Recht und Geschichte wie David Cook als bedeutender Fortschritt angesehen wird, da Abtrünnige zumindest am Leben bleiben.

Diese Vorschriften hatten einen Grund. Wissenschaftler haben erklärt, dass die frühen Gläubigen abrahamischer Religionen in einer Welt lebten, in der der Monotheismus eher die Ausnahme als die Regel war. Die antiken Juden und Christen und die ersten Muslime waren alle von Polytheisten umgeben, die sie als „Heiden“ bezeichneten und die wiederum den Monotheismus als unlogisch und bizarr betrachteten. Gläubige Monotheisten hatten möglicherweise polytheistische Verwandte und Freunde. Das Römische Reich übte starken Druck aus, auch durch Verfolgung und Hinrichtungen, um Monotheisten in die polytheistischen Kreise zurückzubringen. Das taten auch die „heidnischen“ Einwohner Mekkas, als sie mit den ersten Muslimen konfrontiert wurden.

Es war sehr schwierig, den monotheistischen Glauben zu bewahren. Er war ständig der Gefahr ausgesetzt, von den Wellen eines stärkeren und aggressiven Polytheismus überschwemmt zu werden. Juden, Christen und später auch Muslime mussten außergewöhnliche Maßnahmen ergreifen, um ihren gefährdeten Glauben zu schützen. Eine davon bestand darin, den Kontakt zu Abtrünnigen abzubrechen, die sonst zusammen mit den „Heiden“ Druck auf sie ausgeübt hätten, mit der katastrophalen Folge, dass die jungen monotheistischen Religionen korrumpiert und zerstört worden wären.

Es stimmt, dass Christen und Muslime (nicht aber die Juden) später politische Macht erlangten. Aber sie waren sich immer noch der Empfindlichkeit des Monotheismus bewusst und beschlossen, dass die Bestimmungen gegen Abtrünnige beibehalten werden sollten.

Mehrere Jahrhunderte lang wurden Abtrünnige von Staaten bestraft und isoliert, was in mehreren muslimischen Ländern immer noch der Fall ist. Während im Christentum sowohl Martin Luther (1483–1546) als auch Johannes Calvin (1509–1564) noch glaubten, dass der Schutz der Gläubigen vor Abtrünnigen Aufgabe des Staates sei, setzte sich in der Neuzeit allmählich die Idee der Religionsfreiheit durch. Dieses Konzept führte dazu, dass die Anwendung eines Kontaktabbruchs nicht lockerer, sondern strenger wurde. Die protestantischen Gruppen, die für die Trennung von Kirche und Staat eintraten, vertraten die Auffassung, dass Abtrünnige nicht vom Staat bestraft werden sollten, der sich nicht in religiöse Kontroversen einmischen dürfe. Sie ließen die Abtrünnigen jedoch nicht in Ruhe, sondern privatisierten die Unterdrückung der Abtrünnigkeit. Da der Staat aufgefordert wurde, sich aus der Sache herauszuhalten, wurde die Eindämmung der Gefahr von Abtrünnigen zur Aufgabe der einzelnen Gläubigen, allen voran der Verwandten und engeren Freunde des Abtrünnigen.

Diejenigen, die das einfache Leben und die altmodischen Bräuche der Amischen kennen, wissen vielleicht auch, dass sie eine strenge Version der „Meidung“, d. h. des Kontaktabruchs einhalten, wie er von den frühen Protestanten praktiziert wurde. Nur wenige wissen, dass die „Meidung“ als ein Fortschritt angesehen wurde, als sie eingeführt wurde. Die Amischen flohen nach Nordamerika, um ihr Recht auf Religionsfreiheit ausüben zu können. Als Teil der Religionsfreiheit wurden Abtrünnige nicht mehr hingerichtet und physische Gewalt gegen sie war verboten. Es stand ihnen frei, sich anderswo niederzulassen und wenn gewünscht neue, getrennte Religionsgemeinschaften zu gründen. Die einzige Sanktion, der sie unterworfen wurden, war die „Meidung“ d. h. die strikte Trennung von ihren Freunden und Verwandten, was vielleicht traurig, aber sicherlich besser war als die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen oder das Ertränken im eisigen Wasser des Flusses Limmat, was die Strafe für Abtrünnige im protestantischen Zürich war.

Plakat für einen von einigen Filmen über die von den Amischen praktizierte Meidung. Von Twitter.

Heute betrachten die meisten Christen Aufrufe an den Staat zur Bestrafung oder Hinrichtung von Abtrünnigen als eine Sache der Vergangenheit oder als Kennzeichen von Religionen, die dem modernen demokratischen Ethos widersprechen. Dass Abtrünnige, wenn sie ungehindert bleiben, den Glauben der Gläubigen untergraben oder die Religionsgemeinschaften zerstören können, wird nach wie vor akzeptiert. Aber der Umgang mit Abtrünnigen wird eher dem Einzelnen und der Familie als dem Staat überlassen.

Jehovas Zeugen würden sagen, dass sie den Kontaktabbruch nicht aus historischen oder soziologischen Gründen praktizieren, sondern weil die Bibel dies lehrt, vor allem in 1. Korinther 5:11 und 13 und 2 Johannes 10-11. In ähnlicher Weise würde ein gläubiger Muslim darauf bestehen, dass sich die islamische Haltung zur Abtrünnigkeit einfach aus der göttlichen Offenbarung und den Worten des Propheten Mohammed ergibt. Dies sind interne Ansichten, in der Sprache der Sozialwissenschaften „emisch“ genannt, die anerkannt und respektiert werden sollten. Wissenschaftler bringen als Außenstehende eine andere Sichtweise ein, die „etisch“ genannt wird (ein Fachbegriff, nicht zu verwechseln mit „ethisch“). Diese „etische“ Perspektive ersetzt nicht die „emische“. Aber sie zeigt, dass die Haltung von Jehovas Zeugen in Bezug auf den Kontaktabbruch, ein Verfahren, das ein fester Bestandteil der Geschichte des Monotheismus ist, nichts Seltsames, Irrationales oder Einzigartiges ist.




QUELLE: https://bitterwinter.org/kontaktabbruch-bei-jehovas-zeugen-1-warum-kontaktabbruch/ 



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