Mittwoch, 5. April 2023

KONTAKTABBRUCH - 3. Der Kontaktabbruch in Theorie und Praxis

Kontaktabbruch bei Jehovas Zeugen. 3. Der Kontaktabbruch in Theorie und Praxis

Es gibt mehrere Mythen über den Kontaktabbruch. Es gibt Ausnahmen, z. B. für zusammenlebende Verwandte. Er ist sowohl für die Meidenden als auch für die Gemiedenen schmerzhaft. Das Ziel dabei ist, sowohl die Gläubigen zu schützen als auch die Sünder zur Umkehr zu bewegen.

von Massimo Introvigne

LINK: 1. Warum Kontaktabbruch? 

LINK: 2. Verlassen der Gemeinschaft und Gemeinschaftsentzug 

LINK: 3. Der Kontaktabbruch in Theorie und Praxis 

LINK: 4. Was geschieht mit Minderjährigen?

LINK: 5. Ist der Kontaktabbruch „illegal“?

LINK: 6. Warum der Kontaktabbruch respektiert werden sollte

Sonia wird in dem Video von Jehovas Zeugen „Jehovas Urteile loyal unterstützen – Reuelose Missetäter meiden“ ausgeschlossen, in welchem die Gründe für den Kontaktabbruch erläutert werden. Quelle: jw.org.

Was ist der Kontaktabbruch bzw. die Meidung? Die Medien stützen sich oft auf Berichte von abtrünnigen Ex-Mitgliedern. Wie ich an anderer Stelle erklärt habe, werden nicht alle ehemaligen Mitglieder einer Religion zu „Apostaten“, und auf die meisten trifft das auch nicht zu. Religionswissenschaftler verwenden „Apostaten“ als Fachbegriff für Ex-Mitglieder, die zu militanten Gegnern der Religion werden, die sie verlassen haben. Da sie sich einer gegnerischen Organisation angeschlossen haben, deren Ziel es ist, ihre frühere Religion zu kritisieren und, wenn möglich, zu zerstören, sind ihre Berichte zwar nicht uninteressant, aber offensichtlich voreingenommen. Soziologen haben sie oft als Schauermärchen“ bezeichnet, deren erstes Ziel darin besteht, als Waffe gegen die Religion, die sie verlassen haben, eingesetzt zu werden.

Führende Wissenschaftler auf dem Gebiet der neuen religiösen Bewegungen glauben nicht, dass alles, was ein Apostat berichtet, per Definition falsch ist. Berichte von Abtrünnigen sollten berücksichtigt und geprüft werden. Aber sicherlich ist nicht alles, was Apostaten berichten, wahr, und sie als einzige Quelle für eine Religion heranzuziehen, würde nur zu voreingenommenen, wenn nicht gar verzerrten Beurteilungen führen.

Dies gilt auch, wenn man Berichte über den Kontaktabbruch bzw. die Meidung betrachtet. Wie einer der führenden akademischen Gelehrten auf dem Gebiet der Zeugen Jehovas, George Chryssides, beobachtet hat, erzählen manchmal abgefallene Ex-Mitglieder und selbsternannte „Sektenexperten“, die sich auf die Berichte der Apostaten verlassen, Geschichten, die vom „Unwahrscheinlichen“ bis zum „Absurden“ reichen.

Was geschieht in Wirklichkeit? Im Falle ehemaliger Zeugen Jehovas, die ausgeschlossen wurden oder selbst die Gemeinschaft verlassen haben – was das bedeutet, wurde im vorigen Artikel dieser Serie erläutert –, wird in der Zusammenkunft unter der Woche ihrer Versammlung (Gemeinde) schlicht verkündet: „X ist kein Zeuge Jehovas mehr“.

Einige der von Chryssides erwähnten „Schauermärchen“ von Apostaten geben vor, dass in diesem Fall das ausgeschlossene Ex-Mitglied „mit nur wenigen Habseligkeiten wie einem alten Lieferwagen und ohne Geld für Benzin aus dem Haus der Familie verwiesen wird und als Folge davon unter einer Brücke schlafen musste“. Das würde vielleicht ein dramatisches Drehbuch für einen Film abgeben, ist aber nicht wahr.

George Chryssides. Von Facebook.
 

In der Rubrik „Oft gefragt“, die auf der offiziellen Website von Jehovas Zeugen, jw.org, im Jahr 2020 veröffentlicht wurde, heißt es: „Wie sieht es aus, wenn jemand ausgeschlossen wird, seine Frau und seine Kinder aber nach wie vor Zeugen Jehovas sind? Das Band, das ihn im Dienst für Gott mit seiner Familie verbunden hat, ist zwar nicht mehr dasselbe. Doch er gehört weiter zur Familie. Die Bindung aneinander bleibt bestehen; das Eheleben und der normale Familienalltag gehen weiter.”

In dem 2008 erschienenen Buch Bleibt in Gottes Liebe, das ebenfalls von Jehovas Zeugen herausgegeben wurde, lesen wir: „Da durch einen Gemeinschaftsentzug die Familienbande nicht gelöst werden, könnte der Ausgeschlossene weiter am normalen Familienalltag beteiligt sein. Allerdings hat er das Band, das ihn im Glauben und im Dienst für Gott mit der Familie verbunden hat, durch sein Verhalten ganz bewusst zerrissen. Deshalb können ihn die anderen in der Familie, die treu zu Jehova stehen, in nichts mehr mit einbeziehen, was sie im Rahmen ihrer Anbetung tun. Falls der Ausgeschlossene zum Beispiel beim Familienstudium dabeisitzt, würde er sich nicht daran beteiligen.“

Am 15. April 1991 erklärte der Wachtturm: „Wenn ein Ausgeschlossener in einer christlichen Familie lebt, hätte er immer noch am normalen, alltäglichen häuslichen Geschehen und an familiären Aktivitäten teil.“

Dies ist keine neue Entwicklung. Bereits am 1. November 1974 hatte der Wachtturm erklärt: „Da durch einen Gemeinschaftsentzug der Versammlung weder verwandtschaftliche Bande noch die Ehegemeinschaft aufgelöst wird, fordert die Situation, die dadurch in einer Familie entsteht, besondere Aufmerksamkeit. Eine Frau, deren Mann ausgeschlossen werden musste, ist von der biblischen Verpflichtung, ihn als Haupt zu respektieren, nicht befreit; nur der Tod oder eine schriftgemäße Scheidung kann sie von dieser Verpflichtung befreien (Röm. 7:1-3; Mark. 10:11, 12). Auch ein Mann ist von der Verpflichtung, seine Frau, mit der er ‚ein Fleisch‘ ist, zu lieben, nicht befreit, selbst wenn ihr die Gemeinschaft entzogen worden ist (Matth. 19:5, 6; Eph. 5:28-31).”

Der Wachtturm vom 15. April 1988 erklärte erneut: „Ein Mann, dem die Gemeinschaft entzogen worden ist oder der die Gemeinschaft verlassen hat, könnte somit immer noch bei seiner christlichen Frau und seinen treuen Kindern wohnen. Aus Achtung vor Gottes Urteilssprüchen und der Maßnahme der Versammlung werden die Frau und die Kinder anerkennen, daß er durch seine Handlungsweise die geistigen Bande, die früher bestanden, gelöst hat. Da aber durch seinen Gemeinschaftsentzug nicht die Blutsverwandtschaft oder die ehelichen Bande aufgehoben wurden, könnten der normale Umgang und das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Familie weiterbestehen.“

In reißerischen Berichten von Apostaten wird manchmal von Fällen berichtet, in denen trotz dieser klaren Bestimmungen Ehepartner oder erwachsene Kinder, denen die Gemeinschaft entzogen wurde, von ihren Angehörigen gezwungen wurden, das Haus der Familie zu verlassen.

Bei weiteren Nachforschungen stellte sich jedoch heraus, dass es sich bei diesen Vorfällen nicht um Meinungsverschiedenheiten über die Religion handelte, sondern um aggressive Personen, deren Gewohnheiten wie Gewalttätigkeit, Trunkenheit oder unverschämtes oder bewusst provozierendes Verhalten das Zusammenleben mit ihren Familienmitgliedern unmöglich und sogar gefährlich machten. Einigen von ihnen wurde gerade wegen ihres gewalttätigen Verhaltens die Gemeinschaft entzogen, aber sie „vergessen“ praktischerweiße, dieses Detail in ihre Erzählungen aufzunehmen. In diesen Fällen würde die aggressive Person von Verwandten aller Religionen aus dem Haus der Familie geworfen, und weltliche Gerichte hätten nichts dagegen.

Das soll nicht heißen, dass Jehovas Zeugen den Kontaktabbruch nicht ernst nehmen. Er erstreckt sich auch auf nicht mit ihnen zusammenlebende Verwandte. In der gleichen Ausgabe des Wachtturms vom 15. April 1988 wurde im Gegensatz zum Fall zusammenlebender Verwandten folgendes erklärt: „Anders verhält es sich, wenn einem Verwandten, der außerhalb des engsten Familienkreises lebt, das heißt nicht in derselben Wohnung, die Gemeinschaft entzogen worden ist oder er die Gemeinschaft verlassen hat. Höchstwahrscheinlich ist es möglich, so gut wie gar keinen Kontakt mit diesem Verwandten zu haben. Doch selbst wenn gewisse familiäre Angelegenheiten einen Kontakt erfordern würden, würde man diesen gewiß auf ein Minimum beschränken.

Eine dramatische Auseinandersetzung zwischen einem Vater und seiner ausgeschlossenen erwachsenen Tochter in dem Video „Jehovas Urteile loyal unterstützen – Reuelose Missetäter meiden“.
 

Das Gleiche gilt für geschäftliche Beziehungen zu ehemaligen Mitgliedern, denen die Gemeinschaft entzogen wurde oder die die Gemeinschaft verlassen haben. Jehovas Zeugen werden nicht aufgefordert, diese Beziehungen abzubrechen, sondern es wird ihnen geraten, sie auf geschäftliche Anlässe und Gespräche über die Arbeit zu beschränken und insbesondere jedes Gespräch über Religion zu vermeiden. Eine grobe Missachtung dieser Hinweise kann an sich schon ein Grund für kirchenrechtliche Schritte sein, und Jehovas Zeugen verweisen auf das, was 2. Johannes 11 über die Abtrünnigen zu sagen hat: „Denn wer ihm den Gruß bietet, macht sich mitschuldig an seinen bösen Taten.“

Wie Chryssides anmerkte, „ist der Gemeinschaftsentzug nicht dazu gedacht, Gefühllosigkeit zu fördern“. Er zitiert ein Beispiel aus dem Wachtturm, in dem es um eine ausgeschlossene Frau ging, deren Auto eine Reifenpanne hatte. In diesem Fall wurde den Versammlungsmitgliedern geraten, ihr zu helfen, und es wurde ihnen gesagt, dass die Weigerung, ihr zu helfen, „unnötig lieblos und unmenschlich“ wäre und „keinen ausgeglichenen Standpunkt“ im Verständnis des Prinzips des Kontaktabbruchs zeigen würde. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um schwer kranke oder älter werdende Angehörige handelt, die Hilfe benötigen. Jehovas Zeugen lehren, dass der Kontaktabbruch ihre Verpflichtung, ihren Angehörigen beizustehen, nicht aufhebt.

Dies zeigt den Unterschied zwischen dem Kontaktabbruch, wie er Jehovas Zeugen praktiziert wird, und dem „sozialen Tod“, dem wir im ersten Artikel dieser Serie begegnet sind und der von einigen radikalen ultraorthodoxen jüdischen Gruppen praktiziert wird. Der Ausdruck „sozialer Tod“ wurde von Gelehrten des Judentums des frühen 20. Jahrhunderts geprägt, um diese Form des Cherem unter ultra-orthodoxen Juden zu bezeichnen. Die Verwendung dieses Begriffs in Bezug auf Jehovas Zeugen ist unbegründet und wird von Apostaten und Anti-Sekten-Aktivisten nur verwendet, um Medien und ihre Leser zu beeindrucken.

Jehovas Zeugen erkennen an, dass der Kontaktabbruch schmerzhaft ist. In der Studienausgabe des Wachtturms vom Oktober 2017 heißt es zum Beispiel: „Auch wenn uns das sehr schwerfällt, müssen wir unnötigen Kontakt vermeiden — sei es telefonisch, brieflich oder über Textnachrichten, E-Mails oder soziale Netzwerke.“

Der Schmerz betrifft jedoch nicht nur die ausgeschlossenen Ex-Mitglieder. Obwohl Berichte von Anti-Kult-Aktivisten und Apostaten dies nicht erwähnen, erkennen Wissenschaftler, die Zeugen Jehovas mit gutem Ruf (und nicht nur Apostaten) befragt haben, wie schmerzhaft es für einen Zeugen Jehovas ist, einen Verwandten oder engen Freund zu haben, der ausgeschlossen worden ist.

Es kann Schmerz aufgrund des Kontaktabbruchs geben, den Jehovas Zeugen als eine von der Bibel vorgeschriebene Pflicht betrachten, und es kann zusätzlichen Schmerz aufgrund der Gründe für den Kontaktabbruch geben, zum Beispiel wenn ein gewalttätiger Ehemann ausgeschlossen wurde, weil er seine Frau schamlos geschlagen oder sie reuelos betrogen hat.

Der Schmerz von Sonias Eltern in dem Video „Jehovas Urteile loyal unterstützen – reuelose Missetäter meiden“.

Für Jehovas Zeugen ergibt sich das Meiden aus klaren Hinweisen in der Bibel, insbesondere in 1. Korinther 5:9-13 und 2. Johannes 9-11. Als Beweis dafür zitieren Jehovas Zeugen angesehene Historiker, die eindeutig erklären, dass der Kontaktabbruch von Christen in den ersten Jahrhunderten praktiziert wurde, wie ich im ersten Artikel dieser Serie erwähnt habe. Sie glauben nicht, dass es richtig wäre, diese biblischen Gebote zu ändern oder zu missachten.

Sie glauben aber auch, dass die Bibel nichts Schädliches lehren kann und dass der göttliche Plan ein Plan der Liebe ist. So schmerzhaft es auch ist, der Kontaktabbruch hat nicht nur das Ziel, die Gläubigen zu schützen, sondern auch die Sünder zur Vernunft zu bringen und zur Umkehr zu bewegen. Älteste können, wenn ihre Besuche nicht verweigert werden, Ausgeschlossenen ihren Rat anbieten, in der Hoffnung, dass sie bereuen und zurückkehren.

Selbst Gegner räumen ein, dass ein großer Anteil der ausgeschlossenen ehemaligen Zeugen Jehovas schließlich wieder aufgenommen wird. Sie vermuten, dass sie die Wiederaufnahme nur beantragen, um dem Kontaktabbruch zu entgehen, und nicht, weil sie von den Lehren und Praktiken von Jehovas Zeugen überzeugt sind. Ich frage mich, woher die Gegner das wissen wollen. Letztlich ist dies eine philosophische Frage, die so alt ist wie die Menschheit. Bereuen Zeugen Jehovas, die ausgeschlossen wurden, aus einer aufrichtigen Änderung heraus oder nur, um die Folgen des Gemeinschaftsentzugs zu vermeiden? Respektieren wir die Gesetze, weil wir gute Bürger sind, oder nur, um einer Bestrafung zu entgehen? Wer kann das mit Sicherheit sagen?

 

QUELLE: https://bitterwinter.org/kontaktabbruch-bei-jehovas-zeugen-3-der-kontaktabbruch-in-theorie-und-praxis/

 

 

 


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