Mittwoch, 5. April 2023

KONTAKTABBRUCH - 2. Verlassen der Gemeinschaft und Gemeinschaftsentzug

 Kontaktabbruch bei Jehovas Zeugen. 2. Verlassen der Gemeinschaft und Gemeinschaftsentzug

Die Gemeinschaft zu verlassen ist nicht dasselbe wie einfach nur inaktiv zu werden. Und es erfolgt kein Gemeinschaftsentzug bei geringfügigen Fehlern, sondern nur bei nicht bereuten schweren Sünden.

von Massimo Introvigne

LINK: 1. Warum Kontaktabbruch? 

LINK: 2. Verlassen der Gemeinschaft und Gemeinschaftsentzug 

LINK: 3. Der Kontaktabbruch in Theorie und Praxis 

LINK: 4. Was geschieht mit Minderjährigen?

LINK: 5. Ist der Kontaktabbruch „illegal“?

LINK: 6. Warum der Kontaktabbruch respektiert werden sollte


Aus der Studienausgabe von Der Wachtturm“, April 2015. Quelle: jw.org.

Es gibt zwei Kategorien ehemaliger Zeugen Jehovas, die vom Kontaktabbruch betroffen sein können. Zur ersten gehören diejenigen, die ausgeschlossen wurden. Die zweite Kategorie umfasst diejenigen, die sich von der Organisation getrennt haben.


Bevor wir über den Kontaktabbruch sprechen, ist es daher notwendig, den Gemeinschaftsentzug zu verstehen. Aber zuerst sollten wir den Fall derjenigen untersuchen, die die Gemeinschaft verlassen. Gegner behaupten manchmal, es sei ungerecht, diejenigen, die wegen schwerer Sünden ausgeschlossen wurden, und diejenigen, die Jehovas Zeugen einfach verlassen haben, gleich zu behandeln. Dieser Einwand beruht jedoch auf einem Missverständnis.

Es gibt umfangreiche soziologische Literatur über nicht praktizierende” oder inaktive Mitglieder einer Religion. So sind beispielsweise die meisten römisch-katholisch Getauften inaktiv, d. h. sie nehmen selten oder gar nicht an der Messe und anderen Zeremonien teil und betrachten sich selbst als nicht praktizierend. In fast allen Ländern mit einer katholischen Mehrheit gibt es nach Ansicht von Soziologen heute mehr nicht praktizierende oder inaktive Katholiken als aktive Katholiken. Nur in Deutschland kam es vor 2009 (als die katholische Kirche ihre Regeln änderte) relativ häufig vor, dass Katholiken, die ihren Glauben aufgegeben hatten, eine förmliche Erklärung über ihren Austritt” in die Kirchenbücher ihrer Gemeinde eintrugen. Sie taten das, um die Kirchensteuer zu umgehen, die der deutsche Staat für die katholischen Kirche von den als katholisch registrierten Personen einzieht.

Doch abseits dieser besonderen Situation in Deutschland distanziert sich die überwältigende Mehrheit der inaktiven Katholiken nicht formell von der katholischen Kirche. Nur eine winzige Minderheit von abtrünnigen Ex-Katholiken, die zu lautstarken Gegnern ihrer früheren Kirche geworden sind, schreiben Briefe mit deutlichen Worten, erklären öffentlich ihren Glaubensabfall oder geben bekannt, dass sie einer anderen Religion beigetreten oder Atheisten geworden sind. Nach der vorherrschenden Auslegung des katholischen Kirchenrechts werden diese militanten Apostaten unweigerlich exkommuniziert, was bei den übrigen inaktiven Katholiken nicht der Fall ist.

DIE SITUATION BEI DEN JEHOVAS ZEUGEN IST DIE GLEICHE. Wie alle großen religiösen Organisationen haben auch Jehovas Zeugen jedes Jahr einen gewissen Anteil an neuen „inaktiven“ oder untätigen Mitgliedern, die auf unterschiedlichen Gebieten ihren Glauben nicht mehr praktizieren, ebenso wie sie einen gewissen Anteil an neuen Mitgliedern haben, die der Organisation beitreten. Die Zeugen sagen über diejenigen, die inaktiv werden, dass ihr Glaube schwach geworden ist. Sie nehmen nicht mehr an den Zusammenkünften der Versammlung (Gemeinde) teil, predigen nicht mehr, und vielleicht pflegen sie mit anderen Gläubigen sogar gar keine Gemeinschaft mehr. Diese untätigen oder „schwachen Gläubigen werden nicht ausgeschlossen oder gemieden.

Im Gegensatz dazu werden die selteneren abtrünnigen Ex-Mitglieder, die sich förmlich und öffentlich von ihrem Glauben losgesagt haben und sich von der Versammlung entweder schriftlich oder durch Handlungen distanzieren (z. B. indem sie sich förmlich einer anderen Religion oder einer weltlichen Organisation anschließen, die nach Ansicht von Jehovas Zeugen „Ziele verfolgt, die im Widerspruch zu den biblischen Lehren stehen“), genau auf dieselbe Art und Weise gesehen und behandelt wie diejenigen, denen die Gemeinschaft entzogen wurde (d. h. die ausgeschlossen worden sind). Wie bereits erwähnt, ist dies keineswegs nur bei Jehovas Zeugen der Fall. Nach der vorherrschenden Auslegung des Kirchenrechts besteht zum Beispiel die gleiche Situation in der katholischen Kirche

Jean-Paul Laurens (1838–1921), „Die Exkommunikation von Robert dem Frommen“. Obwohl Historiker darüber streiten, ob die Exkommunikation jemals stattgefunden hat, bedeutet die Geschichte über Robert II. von Frankreich (972–1031), dass die katholische Kirche sich das Recht vorbehielt, auch einen König zu exkommunizieren, der einst den Spitznamen „der Fromme“ trug, wenn er sich gegen die Kirche gewandt hatte. Bildnachweiß.
 

Fast alle Religionen haben Verfahren, um Mitglieder, die sich schwerer Vergehen schuldig gemacht haben, zu exkommunizieren oder aus ihrer Gemeinschaft auszuschließen. Diese Vergehen können moralischer Art sein, wie Ehebruch, häufige Trunkenheit oder Diebstahl, oder aber religiöser Art, wie die Verleugnung wesentlicher Glaubenssätze. Die meisten Religionen, darunter auch Jehovas Zeugen, schützen die Privatsphäre der ausgeschlossenen Mitglieder und geben die Gründe für ihren Ausschluss nicht öffentlich bekannt. Dies ist zwar lobenswert und in einigen Ländern durch weltliche Gesetze zum Schutz der Privatsphäre vorgeschrieben, ermöglicht jedoch Falschdarstellungen. Es überrascht nicht, dass ehemalige Mitglieder, die wegen Unmoral oder Diebstahls ausgeschlossen wurden, nicht bereit sind, ihre Sünden öffentlich zu machen, und stattdessen lieber behaupten, dass der Grund für ihren Ausschluss eine Meinungsverschiedenheit über die Lehre war. Tatsächlich haben führende Wissenschaftler zu Jehovas Zeugen wie George Chryssides festgestellt, dass sexuelle Unmoral der häufigste Grund für den Ausschluss ist.

Für Jehovas Zeugen ist auch der Begriff der nicht bereuten Sünde wichtig. In der Studienausgabe des Wachtturms vom Oktober 2021 heißt es zum Beispiel: Reuelose Sünder werden aus der Versammlung ausgeschlossen.  Fehlende Reue ist ein wesentlicher Faktor für den Ausschluss.

Es ist wiederholt vorgekommen, dass Zeugen Jehovas, die ausgeschlossen wurden, weltliche Gerichte gebeten haben, die Entscheidungen der Rechtskomitees (kirchenrechtliches Gremium) der Organisation zu überprüfen. Sie haben durchweg verloren, mit seltenen Ausnahmen, wie einem ungewöhnlichen norwegischen Urteil aus dem Jahr 2021, das jedoch vom Obersten Gerichtshof Norwegens im Jahr 2022 aufgehoben worden ist. Diese Fälle sind jedoch auf ihre eigene Weise nützlich, da sie zu einer umfassenden Bewertung des Verfahrens, das zum Gemeinschaftsentzug (d. h. Ausschluss) führt, durch Beobachter geführt haben, die per Definition neutral sind, wie etwa weltliche Richter.

Gerichte haben die Auffassung vertreten, dass Entscheidungen über den Gemeinschaftsentzug oder den Ausschluss durch eine religiöse Körperschaft nicht rechtlich einklagbar sind und durch das Grundprinzip der Religionsfreiheit geschützt werden, wonach sich Religionen ohne Einmischung des Staates selbst organisieren können. Im Jahr 2007 stellte das Berufungsgericht von Tennessee fest, dass Jehovas Zeugen argumentieren, dass die Freiheit religiöser Körperschaften, über die Mitgliedschaft in ihrer eigenen Organisation zu bestimmen, eine so grundlegende kirchliche Angelegenheit ist, dass es Gerichten untersagt ist, über Streitigkeiten zu der Mitgliedschaft oder dem Ausschluss zu entscheiden. Wir stimmen dem zu. Da es religiösen Körperschaften freisteht, ihre eigenen Richtlinien für die Mitgliedschaft und eine Verfahrensweise zur Beilegung von Streitigkeiten über die Mitgliedschaft ohne Einmischung ziviler Behörden festzulegen, sind Entscheidungen über den Ausschluss von Personen von der Mitgliedschaft nicht von Zivilgerichten überprüfbar.

Im Jahr 2018 bekräftigte der Oberste Gerichtshof Kanadas in der Rechtssache Judicial Committee of the Highwood Congregation of Jehovah’s Witnesses and Highwood Congregation of Jehovah’s Witnesses v. Randy Wall einstimmig, dass säkulare gerichtliche Entscheidungen über theologische oder religiöse Streitigkeiten oder über strittige Fragen der religiösen Lehre das Gericht in ungerechtfertigter Weise in die Angelegenheiten der Religion verwickeln. Er fügte hinzu, dass sogar die Verfahrensregeln einer religiösen Gruppe die Auslegung einer religiösen Lehre einbeziehen können”, und kam zu dem Schluss, dass diese Arten von [religiösen] Verfahrensregeln ebenfalls nicht einzuklagen sind“.

Der Oberste Gerichtshof von Kanada, Ottawa. Bildnachweiß.

Soziologen würden dem zustimmen, denn wie Max Weber (1864–1920) gelehrt hat, sind die Verfahren in einer religiösen Organisation an sich Theologie. Bei Jehovas Zeugen sind die Verfahrensregeln eher im religiösen Glauben verwurzelt als vom weltlichen Recht abgeleitet. Einige Begriffe mögen gerichtsähnlich klingen (Kenntnisnahme“, Gelegenheit zur Anhörung”, Berufung), aber der Kontext ist zweifellos religiös: Rechtskomitees werden mit einem Gebet eröffnet und beziehen sich auf biblische Grundsätze. Die unvermeidliche Schlussfolgerung ist, dass diese Regeln und Verfahren von Natur aus religiös sind.

Während europäische Gerichte in Fällen von Gemeinschaftsentzug im Allgemeinen ebenfalls zugunsten von Jehovas Zeugen entschieden haben, gibt es im Vergleich zu nordamerikanischen Entscheidungen einen kleinen Unterschied. Italienische Gerichte haben beispielsweise wiederholt angemerkt, dass weltliche Richter kirchliche Gerichte zwar nicht zwingen können, dieselben Regeln wie nationale oder europäische Gerichte zu übernehmen, weil sie sich nicht in die Selbstorganisation der Religionen einmischen können, dass sie aber dennoch prüfen können, ob die Rechtskomitees ihre eigenen Regeln befolgt haben und ob der Person, die ausgeschlossen wurde, in irgendeiner Form das Recht des Beklagten auf Anhörung gewährt wurde, das ein grundlegendes Menschenrecht ist. Gerichte in Bari (2004 und 2007), in Rom (2021) und zuletzt in Teramo sind zu dem Schluss gekommen, dass Rechtskomitees die von Jehovas Zeugen aufgestellten Regeln anwenden und diese Regeln den Angeklagten das Recht gewähren, angehört zu werden und sich zu verteidigen.

Außerdem können die Betroffenen nach einer Entscheidung, die sie von der Gemeinschaft ausschließt, Berufung einlegen. In diesem Fall, so wird in Kapitel 14, Abs. 26, des internen Handbuchs Organisiert, um Jehovas Willen zu tun erklärt, wendet sich die Ältestenschaft an den Kreisaufseher. Er wählt geeignete Älteste [normalerweise aus einer anderen Versammlung] aus, die in ein Berufungskomitee bilden, das den Fall neu verhandelt“. Alle Verkündiger” der Zeugen Jehovas haben ein Exemplar dieses Buches, und es ist leicht in gedruckter und elektronischer Form erhältlich.

Welche Vergehen ein Grund für den Ausschluss sind, ist hingegen eine theologische Frage, in die sich weltliche Richter nicht einmischen können, wie der High Court of England and Wales, Queen’s Bench Division, am 7. Juni 2019 bestätigte (die Entscheidung wurde vom Court of Appeal in London, Queen’s Bench Division, am 17. März 2020 aufrechterhalten).

Welche Vergehen so schwerwiegend sind, dass sie zum Ausschluss aus der Gemeinschaft führen sollten, ist zwar eine Angelegenheit, über die Jehovas Zeugen selbst entscheiden können, aber es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Ausschluss aus der Gemeinschaft – ungeachtet der Anekdoten, die abtrünnige Ex-Mitglieder gerne erzählen (und die immer überprüft werden sollten, statt sie für bare Münze zu nehmen) – nicht wegen kleinerer Fehler erfolgt, sondern wegen nicht bereuten schweren moralischen Sünden oder wegen der öffentlichen Verleugnung von Lehren, die Jehovas Zeugen als wesentlich ansehen. Einige in unseren liberalen modernen Gesellschaften mögen Exkommunikation oder Ausschluss als generell inakzeptabel betrachten, aber es gibt sie in allen Religionen, ganz zu schweigen von politischen Parteien, Gewerkschaften und anderen weltlichen Organisationen. In diesen Fällen haben Gerichte, einschließlich des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wiederholt entschieden, dass die Meinungsfreiheit und die Religionsfreiheit der Ausgeschlossenen nicht verletzt werden. Wenn sie mit den moralischen und theologischen Standards ihrer Religion nicht einverstanden sind, ist ihre individuelle Freiheit dadurch geschützt, dass niemand sie daran hindert, die Religion zu verlassen und einer religiösen Organisation mit völlig anderen Verfahren und Überzeugungen beizutreten oder eine solche zu gründen.

Pflege des kranken Schafs, das isoliert werden musste, aus „Der Wachtturm“, Studienausgabe, Oktober 2021.

Es sollte hinzugefügt werden, dass Jehovas Zeugen wie andere Religionen, die Formen der Exkommunikation oder des Gemeinschaftsentzuges praktizieren, glauben, dass die Funktion des Gemeinschaftsentzuges eher heilend als strafend ist. Es ist ein offenes Angebot an die ausgeschlossenen Personen, sich zu ändern und zu bereuen. In der Tat tun das viele. In der Studienausgabe der offiziellen Zeitschrift Der Wachtturm” hieß es im Oktober 2021: Ist ein Gemeinschaftsentzug wirklich ein Ausdruck von Barmherzigkeit? Ja. Jemanden, der sich auf einem verkehrten Weg befindet, nicht zu korrigieren, ist weder weise noch barmherzig noch liebevoll (Spr. 13:24). Kann ein Gemeinschaftsentzug einen reuelosen Sünder veranlassen, sich zu ändern? Vielen hat das entschiedene Vorgehen der Ältesten genau den Ruck gegeben, den sie brauchten, um zur Besinnung zu kommen, ihr Leben zu ändern und in Jehovas ausgebreitete Arme zurückzukehren.“

Alle Wissenschaftler, die sich mit Jehovas Zeugen beschäftigt haben, sind Mitgliedern begegnet, die ausgeschlossen wurden und später in ihre Versammlung zurückgekehrt sind. Dies ist ein Beweis dafür, dass die Behauptungen über die heilende Wirkung des Gemeinschaftsentzuges nicht nur phrasenhaft sind. Jehovas Zeugen bemühen sich wirklich, diese Lehren in die Praxis umzusetzen. Ihre Bemühungen sind häufig erfolgreich.

 

QUELLE: https://bitterwinter.org/kontaktabbruch-bei-jehovas-zeugen-2-verlassen-der-gemeinschaft-und-gemeinschaftsentzug/

 

 

 

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